2. Einleitung

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Mein Name ist Marta van den Burght. Ich bin mit Jan Troost verheiratet, der Seemann ist. Gemeinsam haben wir drei Kinder großgezogen. Sam, Peter und Ingeborg. Natürlich war ich mit dieser Aufgabe teilweise allein, denn ein Steuermann verbringt etwa zwei Drittel des Jahres auf See. 

Kindererziehung sollte für alle Eltern eine Herausforderung sein, die Spaß macht. Unser ältester Sohn kämpfte sich durch die Grundschule und die weiterführende Gesamtschule, mit viel Mühe und unserer ständigen Unterstützung. Unser zweiter Sohn Peter war von Anfang an ein besonderes Kind. Ich finde das ist ein komischer Satz. Alle Menschenkinder sind etwas Besonderes, würde meine Mutter sagen. Aber ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Besonderes ist in unserer Zeit nicht erwünscht. Das ist unangenehm. Er wurde zu einer Akte, die von Tisch zu Tisch wandert und dann in einem Archiv im Keller verschwindet. 

Peter war ein besonderes Kind. Für uns. Für seine liebevolle Familie. Genauso besonders wie sein älterer Bruder, aber ganz anders. 

Seit dem Tag, an dem er seinen ersten kleinen Schritt in ein Schulgebäude machte, gab es Probleme. Von diesem Moment an gab es jede Woche ein Problem. Kann Mutti vorbeikommen, wir wundern uns über etwas. Als junge Mutter habe ich mich nachts, wenn ich wach lag, gefragt, wer genau "wir" sind. Die ganze Schule? Alle Lehrerinnen und Lehrer? Reden sie alle beim Kaffee über mein Kind? Das offensichtlich anders ist, als die anderen? 

Bildung für alle Kinder ist das Geschenk der modernen Zeit. Das hat mir mein Vater jahrelang erzählt. Sie bietet den Menschen gleiche Chancen auf ein gutes Leben, auf Wahlfreiheit, auf Gleichheit. Der letzte Punkt, die Gleichheit, ist ein heikler Punkt. Mein Kind war seinen Altersgenossen alles andere als ebenbürtig. Während seiner gesamten Schulzeit war er die Ausnahme, der Unruhestifter, das Kind, das zur Seite genommen wurde. Der Widerspruch zwischen meinen Erfahrungen und der Gleichwertigkeit, die die wunderbare Bildung unserer Zeit bieten sollte, wurde mir plötzlich klar, als ich Bertha von Suttner las. Das finden Sie vielleicht seltsam. Denn Bertha von Suttner schrieb über die Kriege des neunzehnten Jahrhunderts. Sie lebte von 1843 bis 1914. In ihrem Buch "Die Waffen nieder" zeigte sie, dass der Grund für den Kriegseintritt nicht unbedingt durch sehr ernste bedrohliche Ereignisse bestimmt wurde, die das Opfer von Menschenleben rechtfertigten. Nein, in den Krieg zu ziehen war für Staatsoberhäupter eine ganz normale Tätigkeit und untrennbar mit dem sozialen Status der Elite verbunden. 

Im 19. Jahrhundert begannen Menschen wie Henri Dunant über die Schrecken des Schlachtfelds zu schreiben, und Bertha von Suttner prangerte einige Zeit später in ihrem Buch das Eigeninteresse der Elite an. Sie zeigte, dass das Führen von Kriegen nichts anderes als ein akzeptiertes System war, eine Vorgehensweise, an die sich ihre Zeitgenossen gewöhnt hatten. Sie plädierte für einen unabhängigen Gerichtshof, der dazu beitragen sollte, Konflikte zwischen Ländern friedlich zu lösen. Vielleicht wurde von Suttners Plädoyer erhört, weil die aufkommende Industrie eine viel lukrativere Möglichkeit bot, Geld zu verdienen und Ansehen zu erlangen. Es gab einen Grund, das System zu ändern.

Die Industrie brauchte keine Soldaten, sondern qualifizierte Arbeitskräfte. Für die Menschen war es aus wirtschaftlichen Gründen wichtig, zur Schule zu gehen. Eine neue Ära hatte begonnen, die neue Gesellschaftsordnung würde jetzt die Bedingungen bestimmen. Eine neue Gesellschaftsordnung mit ihren eigenen Opfern. 

Ab 1901 mussten alle Kinder in den Niederlanden bis zum Alter von zwölf Jahren zur Schule gehen. Mit der Demokratisierung des Bildungswesens nach dem Zweiten Weltkrieg wollte die Regierung die gesellschaftlichen Unterschiede verringern und Kindern aus der Unterschicht die Möglichkeit bieten, aufzusteigen. Das Alter der Schulpflicht wurde schrittweise auf 16 und später sogar auf 18 Jahre angehoben. Aus der Chance wurde eine Pflicht. Ein ganzes Heer von Erziehungsspezialisten, die ihre Existenzberechtigung den Kindern verdanken, die diese Bedingungen nicht erfüllen können, war das Ergebnis. Inzwischen ist es zu einem sich selbst erhaltenden Geschäftsmodell geworden. Es wird von Menschen bestätigt, die selbst Produkte des Systems sind, die es so mögen, wie es ist, weil es schon immer so war. 

Das Betreuungs- und Bildungssystem ist in unserer Wirtschaft fest verankert. Es braucht Opfer, um zu existieren. Ihre eigene Existenzberechtigung verhindert strukturelle Veränderungen. Änderungen, die das Leben vieler Kinder nur verbessern können.  

Ich habe das Buch von Suttner zufällig nach einer schrecklichen Erfahrung mit Peters Schule gelesen. 

Peter war achtzehn Jahre alt geworden. Fast unmittelbar nach seinem Geburtstag wurde ich zu einem Gespräch in die Schule eingeladen. Ich wusste nicht, worum es bei dem Gespräch gehen würde, aber Gespräche waren in der Schule an der Tagesordnung, also ging ich einfach hin. Mit dem Mut der Verzweiflung. Jan war auf See.

Ich meldete mich bei der netten Sekretärin im Schulbüro, und sie ging, um den Leiter der Schule zu holen. Den Direktor. Plötzlich überkam mich ein beklemmendes Gefühl. Warum wurde der Direktor geholt? Die Einladung war von dem Klassenlehrer gekommen. Schulleiter X kam auf dem Flur auf mich zu und schüttelte mir herzlich die Hand. “Kommen Sie, bitte. Wir sind im Obergeschoss.” “ Wir?” fragte ich: "Wir? Wer ist wir?” 

“Machen Sie sich keine Gedanken darüber.” Er führte mich in einen Raum, in dem der Klassenlehrer, der Oberstufenkoordinator und der BPO1 bereits saßen. Der Schulleiter setzte sich neben sie, und ich musste meinen Platz gegenüber diesem Tribunal einnehmen. Und das war es auch. Der Schulleiter hielt eine mehrminütige Predigt. Ich müsse verstehen, dass die Schule mehr als genug getan habe, die anderen nickten eifrig, es war nun an der Zeit für uns (wer ist uns?), mit Peter andere Möglichkeiten zu erkunden. “Aber welche Möglichkeiten schweben Ihnen vor?", fragte ich. “Er hat seinen Abschluss noch nicht, oder?”  In diesem Moment dachte ich, dass der Direktor mit 'uns' das Schulteam meinte. Aber das war ein Fehler. Ich habe in meiner Karriere als Mutter viele gemacht.

Das ganze Team, so erklärte der Schulleiter und alle nickten wieder eifrig, war der gleichen Meinung: Peter würde seinen Abschluss sowieso nie bekommen. Also könnten wir auch gleich aufhören. Die Schule wäre gesetzlich verpflichtet, die Ausbildung zu beenden, weil Peter gerade 18 Jahre alt geworden war. Ich wurde freundlicherweise gebeten, Peter abzumelden. Später erfuhr ich, dass dies überhaupt nicht stimmte. Die Schule war gesetzlich überhaupt nicht verpflichtet. Wenn ich selbstbewusster gewesen wäre, hätte ich das sofort verstanden. Wenn sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, muss der Schulleiter mich nicht bitten, mein Kind abzumelden. Aber welche Mutter besucht zuerst einen Kurs "Sei schlauer als der Schuldirektor"? Oder: "Kennen Sie Ihre Rechtsvorschriften" und den Folgekurs "Lassen Sie sich nicht täuschen!” Ich hatte keine Verteidigung. Sie waren sich alle einig. Auch der BPO-Mitarbeiter, der sich eigentlich für mich und vor allem für Peter hätte einsetzen müssen. Aber darauf kam ich erst, als ich längst wieder zu Hause war. Ich habe nachts daran gedacht. Als ich aufwachte, sprangen mir die Gedanken förmlich entgegen. Was sollte ich tun? Wohin sollte das führen? Wir hatten Peter gesagt, dass die Schule sehr wichtig ist. Dass er versuchen solle, durchzuhalten. Mit einem Schulabschluss könne er etwas werden, eine Ausbildung machen und einen Beruf finden. Ohne einen Abschluss war das viel schwieriger. Komm schon, mein Sohn, halte durch. Und er ging. Ab und zu ging er nicht. Und wir haben uns in der Schule für ihn eingesetzt. Ich habe Briefe geschrieben. Ich erklärte. Peter habe sich Tests unterzogen. Es gäbe Berichte. Könnte die Schule daraus nicht ableiten, welche Art von Unterstützung er benötige? Wie oft musste ich mir von seinem Klassenlehrer und dem Oberstufenkoordinator anhören, dass es eine Grenze dafür gäbe, was sie tun könnten. Dieser Peter war nicht ihr einziger Schüler. Und jedes Mal habe ich mich gefragt: Aber was macht ihr denn überhaupt? Und jetzt, ganz plötzlich, war es vorbei. Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich hoffte, dass Jan anrufen würde. Er hatte seit über einer Woche nichts mehr von sich hören lassen. Sie waren mit der Überquerung des Atlantischen Ozeans beschäftigt. Er war fast bei Antwerpen. Dann würde er anrufen. Ich habe in dieser Nacht geweint. Verzweifelt.

Von dem Moment an, als er von der Schule verwiesen wurde, versteckte sich Peter in seinem Zimmer und kapselte sich von mir ab. Er hatte durchgehalten, weil er an Jan und mich glaubte. All diese Untersuchungen, Therapien, Gespräche. Das muss ihn verrückt gemacht haben. Wie ihn von einer Therapie zur nächsten brachten. Von einem Ort zum anderen. Wirklich, mein Sohn, das alles hat seinen Sinn! Das wird dich weiterbringen! 

Und dann musste er trotzdem gehen. Er wurde einfach von der Schule verwiesen. Und ich hatte keine Gegenwehr. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Die Schule wollte ihn nicht mehr haben. Wo hatte ich versagt? Hätte ich es verhindern können? Hätte Jan etwas dagegen tun können, wenn er zu Hause gewesen wäre? Hätte er mit der Faust auf den Tisch gehauen? Wenn ich ihn jetzt frage, gibt er mir Antworten, die mich trösten. Ich soll mir keine Gedanken darübermachen, ich soll nicht denken, dass ich etwas hätte ändern können. 

In den Wochen nach dem Treffen mit dem Schulgericht versank ich in Depressionen. Ich saß auf dem Küchenhocker und starrte aus dem Fenster, oder ich lag auf dem Sofa und schlief einfach ein, denn wie Peter konnte ich das nachts nicht mehr. Wir führten unser eigenes Leben, getrennt voneinander. Er wohnte in seinem Zimmer, ich wohnte in meinem nebenan. Ab und zu wirbelte Ingeborg durch alles, sah unsere Gesichter und verschwand zu ihren Freunden. Sam war mit seinem Studium beschäftigt. Er hatte das Feiern entdeckt. Er und Peter hatten sich auseinandergelebt. Ich habe gesehen, wie es passierte. Wo war ihre Verbundenheit geblieben?

 Bertha lag auf meinem Nachttisch. Ich begann zu lesen und fand Parallelen. Parallelen in einer Geschichte vor mehr als hundert Jahren. Ich sah Ähnlichkeiten in der Art und Weise, wie Strukturen verwurzelt werden, wie sie Teil einer Volkswirtschaft werden. Wie die Menschen an Dingen festhalten, die schon immer so waren und deshalb gut sind; wir mussten ja auch zur Schule gehen und der Urgroßvater war auch Soldat. Und egal, ob die Hälfte der Bevölkerung untergeht, junge Männer sterben, Menschen krank werden, das Essen ausgeht, so wie es ist, ist es gut.

Bertha von Suttner gab mir einen Einblick. Ich sah plötzlich die Unmöglichkeit unseres Kampfes. Wir sind ein Rädchen im Getriebe. Wir sind das Kanonenfutter derer, die an uns verdienen. Sie mögen es lächerlich finden, unsere Kinder mit den jungen Burschen zu vergleichen, die im neunzehnten Jahrhundert auf den Schlachtfeldern von Schleswig oder der Krim in Stücke geschossen wurden. Aber nach all den Jahren, die Jan und ich damit verbracht haben, unser Kind in der Schule zu halten, den Anforderungen der Regierung und der Gesellschaft gerecht zu werden, nach all den Jahren der Kritik an Peters Verhalten, seinem Funktionieren, seiner Entwicklung, die nach Ansicht der Fachleute nicht korrekt war, ohne eine einzige Lösung anzubieten, die den Jungen glücklich machen könnte, fühle ich mich am Ende. Mein Kind ist in Stücke gerissen. Wir können nichts mehr tun. 

Welche Anforderungen haben wir an das Leben als normale Bürger gestellt? Die gleichen Forderungen wie die Menschen im neunzehnten Jahrhundert. Wir tun genau das Gleiche und träumen genau das Gleiche. Du bist jung und triffst jemanden. Man heiratet, oder vielleicht auch nicht, man gründet eine Familie, arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hat ein Dach über dem Kopf. Und außerdem haben wir einen bescheidenen Wunsch: ein bisschen glücklich zu sein und gesund zu bleiben. Und wir glauben, wenn wir nur unsere Pflicht als Mutter, als Vater, als Arbeitnehmer, als Bürger erfüllen, wird es uns vergönnt sein. Aber es war uns nicht vergönnt. Peter war es nicht vergönnt. Er wurde zum Spielball von Menschen mit einer Mission. Wir, Jan und ich, wurden zu Untertanen des Systems. Wir sollten diesen Weg gehen, bis sie mit uns fertig wären. Das Opfer, unser schöner Peter, wird als kleiner Virus in der Gesellschaft zurückbleiben. So wie die Cholera im neunzehnten Jahrhundert nach blutigen Kriegen die Städte dezimierte, so werden Peter und seine Leidensgenossen die Gesellschaft langsam aber sicher unheilbar krankmachen. Wie werden die Verwaltungen dann reagieren? Besserungsanstalten? Gefängnisse?

Ich habe beschlossen, wie Bertha (soweit es mir möglich ist), mich mit der Geschichte unseres derzeitigen Systems zu befassen, nicht mit der Kriegsführung, sondern mit der Pflege und Erziehung. Warum ist es so geworden, wie es ist? Ich bin auf der Suche nach einer Erklärung. Ich möchte zeigen, dass wir unsere Kinder zum Wohle des Systems misshandeln und zerstören. Und dass dies aufhören muss.

 

Übersetzung: Christine Häuser

 

 

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