4. Meine Kindheit und ein bisschen was über Schulen in der Vergangenheit

 

Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass früher alles viel besser war. Sie sagte zum Beispiel: "Früher wurden die Kinder anständig erzogen". Ich fand es immer seltsam, dass meine Eltern mir das auf eine etwas vorwurfsvolle Weise sagten. Ich war nicht gut erzogen, und das lag offenbar an mir. Ich habe mich deswegen immer schuldig gefühlt. Mein Vater nannte mich oft "verwöhnte Göre", mit einem Augenzwinkern, aber irgendwie war mir klar, dass ich diese ganze Verwöhnung nicht verdient hatte. Offensichtlich gab es ein anderes Leben, an dem ich nicht teilhatte, und das besser war, aber nun ja, man musste sich mit diesem Leben abfinden.

Aus dem gleichen Grund hatte ich die meiste Zeit meines Lebens Angst vor alten Menschen, außer natürlich vor meiner lieben Oma. Aber abgesehen von ihr schienen alle alten Leute entschlossen, mich bei jeder Gelegenheit auf meine Unzulänglichkeiten hinzuweisen. “Na, Mädchen, sitzt du bequem? Das gab es bei uns nicht, als wir noch jung waren. Wir durften nie faulenzen. Wir mussten für unseren Lebensunterhalt arbeiten." "Das hast du geschenkt bekommen? Na, das ist ja was! Zu meiner Zeit mussten wir mit ein bisschen Handarbeit, mit der wir uns nützlich machen konnten, zufrieden sein.” Ich weiß noch, als ich das erste Mal allein lebte, traute ich mich nicht, etwas anderes als Lebensmittel zu kaufen, weil ich Angst hatte, dass die Verkäuferin mich fragen würde, ob das, was ich kaufen wollte, wirklich notwendig sei.

Meine Eltern lernten sich während des Studiums kennen. Meine Mutter machte eine Ausbildung zur Apothekenhelferin und verdiente damals 12 Gulden im Monat. Das war vor der Einführung des Mindestlohns im Jahr 1969. Das war weiteres bemerkenswertes Stück Geschichte, das bei der Erziehung durch meine Eltern eine große Rolle spielte: Sei dankbar für die vielen Möglichkeiten, die sich dir heute bieten! Mein Vater studierte Geschichte und Pädagogik. Erst viel später habe ich mir überlegt, dass er Geschichte wählte, um den Krieg zu verstehen. Es kam mir nie in den Sinn, ihn zu fragen. Er war mit Leib und Seele Lehrer, sowohl in der Schule als auch zu Hause. Mein Vater war streng, aber gerecht, wobei letzteres hauptsächlich seine Meinung war. Zur Strafe bekamen wir Hausarrest, und unsere Fahrräder wurden für eine Woche unter Verschluss gehalten.

Wir lebten in einer mittelgroßen Stadt namens X. An meine ersten Jahre erinnere ich mich natürlich nicht. Meine erste Erinnerung ist der Kindergarten. Er wurde von Nonnen geleitet und war furchtbar. Etwa vierzig Kinder saßen auf langen Bänken in schnurgeraden Reihen und wurden von ein paar schwarz gekleideten Frauen, die hinter einem Pult thronten, beaufsichtigt. Ich kann mich noch gut an das für mich als fünfjähriges Kind so erschreckende Bild dieser drei strengen, in Schwarz gehüllten Gesichter erinnern. Man sollte still sein und sich sehr gut benehmen. Jedes Mal, wenn ich dorthin musste, schrie ich wie am Spieß, bis man mich zu Hause bleiben ließ. Glücklicherweise erzählte eine Nachbarin meiner Mutter von einem kleinen Kindergarten, der vor kurzem in einem Anbau an eine Grundschule, in der Nähe eröffnet worden war. Ich glaube, dieser Ort war damals ein ziemliches Novum. Es gab kleine Tische und Stühle, die in dem Raum verteilt waren. Es gab eine Puppenecke und einen Sandkasten, und man konnte mit Bauklötzen spielen. Wahrscheinlich hat es mir dort gefallen, obwohl ich mich nicht mehr an viel erinnern kann.

Dann kam die Grundschule, und mein Vater würde später sagen, dass auch dort die Moderne allmählich Einzug hielt. In der ersten Klasse saßen wir noch in Reihen und das Mädchen hinter dir konnte dir in den Nacken spucken oder an den Haaren ziehen. Es war leicht, zu schummeln, wenn die Nachbarin es zuließ und sich nicht mit dem Arm um ihr Heft herum nach vorne beugte, um ihre Arbeit vor deinen Augen zu verbergen. Aber in den höheren Klassen waren wir in Gruppen mit vier Tischen eingeteilt. Da konnte man nicht mehr schummeln oder jemanden heimlich an den Haaren ziehen und behaupten, man hätte nichts getan. Man musste seinen Mitschülern ins Gesicht sehen, und das war eine ziemliche Umstellung. Aus diesem Grund saßen wir meistens mit dem Rücken zueinander auf unseren Stühlen. Die Klasse meiner ältesten Schwester war die erste nach dem neuen Schulgesetz, dem so genannten "Mammutgesetz" von 1969. Dieses Gesetz wurde so genannt, weil seine Einführung eine riesige Aufgabe war.

Als Lehrer litt mein Vater unter all diesen Veränderungen. Die letzten Absolventen des früheren Schultyps, der HBS (Höhere Bürgerschule), konnten nicht sitzenbleiben, um ein Jahr zu wiederholen, weil sich das Bildungssystem nach ihnen zu sehr verändert hätte. Das war ihm ein Dorn im Auge. Ansonsten verstand ich keine der Diskussionen zwischen meinen Eltern über das Bildungssystem. Das Leben war so, wie es war, und soweit ich wusste, war es schon immer so gewesen. Heute weiß ich, dass wir gerade erst in den Genuss des fragwürdigen Vergnügens gekommen waren, dass jedes Kind zur Schule gehen muss, und dass das heutige Bildungssystem noch gar nicht so alt ist.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gingen die meisten Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren zur Schule. Im Jahr 1900 besuchten nur acht Prozent aller Kinder eine weiterführende Schule. Und das waren alles Jungen. Die Kinder bekamen eine Grundausbildung und dann wurden sie zur Arbeit geschickt. Wie meine Großmutter. Sie machte einen Kurs in Stenografie und Maschinenschreiben und wurde dann in einem Alter zur Arbeit in einem Büro geschickt, in dem ich mich - sechzig Jahre später - immer noch gelangweilt über meiner Schulbank hing und bei Tests schummelte. Im Jahr 1950 besuchten 45 % der Kinder eine weiterführende Schule oder eine Form der Fortsetzung der Grundschule, und fünfzehn Jahre später war diese Zahl auf 84 % gestiegen.

Die Generation meiner Großmutter hat ab dem 12. Lebensjahr gearbeitet, die Hälfte der Generation meiner Mutter hat zumindest irgendeine Form der Sekundarschulbildung erhalten; ab meiner Generation mussten alle bis zum 16. Lebensjahr zur Schule gehen, und meine Kinder gehen bis zu ihrem 18. Wer das nicht will, wird vor Gericht geschleppt. 

Nach dem achtzehnten Geburtstag ist alles anders. Wenn man es bis dahin nicht geschafft hat, den Anforderungen der Erfolgreichen zu entsprechen, wird man verstoßen, wie Peter und ich es erleben mussten. 

Seit 1901 mussten alle Kinder in die Schule gehen. Das heißt, in die Grundschule. Damals war auch Hausunterricht erlaubt, denn aufgrund der Verfassung von 1848 durfte jeder unterrichten, solange die Kinder lernten, was das Gesetz vorschrieb. Seit dem Grundschulgesetz von 1857 war zum Beispiel der Unterricht in den Fächern Geografie, Geschichte und Naturwissenschaften Pflicht. Natürlich war der Hausunterricht ausschließlich denjenigen vorbehalten, die es sich leisten konnten. Gewöhnliche Kinder mussten auf Schulbänken sitzen, vierzig, fünfzig, manchmal hundert Schüler in einer Klasse mit einem Lehrer.

Damals wurden Kinder, die dem Unterricht nicht folgen konnten, als zurückgeblieben, schwachsinnig oder "nervös" bezeichnet. Ab dem Zeitpunkt, an dem alle Kinder zur Schule gehen mussten, war die Zahl der Kinder, die dem Unterricht nicht folgen konnten, überraschend groß. Und natürlich fragte man sich, warum das so war. Die Vielfalt der Diagnosen, die wir heute haben, gab es 1901 noch nicht. Die Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft war noch nicht einmal hundert Jahre alt. Im Jahr 1795, so habe ich im Internet gelesen, löste der Anstaltsarzt Philippe Pinel (1745-1826) die Fesseln der hysterischen Frauen im Pariser Krankenhaus Salpėtrière. Diese folgenschwere Tat gilt als der Beginn der Psychiatrie als medizinische Wissenschaft, deren Ziel es ist, zu helfen und zu heilen, anstatt einzusperren und zu füttern. 

Als man 1901 feststellte, dass nicht alle Kinder in der Lage waren, am Unterricht teilzunehmen oder gehorsam auf der Schulbank zu sitzen, kamen noch die Probleme einer sich modernisierenden Gesellschaft hinzu. Die Industrialisierung hatte das tägliche Leben rasch verändert. Der technische Fortschritt erforderte gebildete Menschen. Gleichzeitig verschlechterte sich die geistige Verfassung der Bevölkerung erheblich. Eine beunruhigende Anzahl von Menschen kam mit dem modernen Leben nicht zurecht. Der Alkoholismus zum Beispiel nahm zu, ebenso wie alle Arten von stressbedingten Problemen, die damals als Neurasthenie, Nervosität oder Hysterie bezeichnet wurden. Ohne das soziale, fürsorgliche Sicherheitsnetz, das wir heute haben, waren dies Bedingungen, die die Menschen ins Elend oder in die Kriminalität trieben.  

Ich frage mich, wie man Peter damals wohl genannt hätte. Er hat seine Aufgaben in der Schule nicht erledigt oder wollte sie nicht erledigen. Zurückgeblieben vielleicht? Manchmal ist er auch weggelaufen, und einmal hat er die Möbel umgeworfen. Nervös also? Oder galten wir vielleicht als Risikoeltern? Der Mann war auf See, die Frau musste allein zurechtkommen. Vielleicht haben sie sich gefragt, ob die Kinder genug gefördert wurden. Genauso wie sie sich jetzt fragen. Die Spezialisten von heute.

 

 

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