6. Und dann bekamen wir Kinder
Meine Schwestern gingen brav aufs Gymnasium, aber ich war zu dumm dafür. Mein Vater sagte, ich sei zu faul, denn sein Motto lautete immer noch: "Du kannst alles erreichen, du musst es nur wollen." Es hat ein halbes Leben gedauert, bis ich in der Lage war, laut zu sagen, dass ich kein Mensch bin, der gerne studiert. Dass ich lieber etwas anderes mache, als über Büchern zu brüten. Dass das eigentlich ganz in Ordnung ist. Von dem Moment an, als ich arbeiten durfte, war ich motiviert und wurde fleißig. Also ging ich auf die Havo (höhere Schule). Im zweiten Jahr bin ich durchgefallen. Und als ich im selben Jahr zum zweiten Mal durchgefallen bin, hat mein Vater das Handtuch geworfen. Anscheinend wollte ich nicht lernen, also wurde ich auf die Hauptschule geschickt. “Ich erlaube dir, bis zum Alter von einundzwanzig Jahren...” und so weiter. Einer der Gründe für das Mammutgesetz war es, den Übergang auf ein höheres Bildungsniveau zu erleichtern, und das habe ich dankbar genutzt, wenn auch in die falsche Richtung. Unser Gesetzgeber wollte, dass die Schüler wachsen und sich über ihr aussichtsloses Dasein erheben, aber ich zog es vor, abzusteigen. Zumindest war das die Meinung meines Vaters. In der Hauptschule war ich auch nicht sehr fleißig, aber ich kam unbeschadet durch und besuchte anschließend mit drei Freunden einen Altenpflegekurs. Endlich durfte ich die Ärmel hochkrempeln und mich an die Arbeit machen. Ich war dort die Außenseiterin. Damals wurde diese Arbeit hauptsächlich von Mädchen aus der Unterschicht erledigt. Es waren gute, fleißige Mädchen, aber ihr Sprachgebrauch und ihre Höflichkeit gegenüber den alten Menschen ließen zu wünschen übrig. Einmal sah ich, wie eine Kollegin eine 85-jährige Dame anschnauzte “Jetzt mach endlich mal deinen Teller leer, sonst gibt es heute Abend kein Fernsehen". Eines Tages kam eine nette Dame mit uns zur Arbeit, um den Mädchen höfliches Benehmen beizubringen. Es stellte sich heraus, dass dies nicht das Einzige war, was man ihnen beibringen musste. Viele Mädchen kamen vom Bauernhof und waren an eine Ernährung mit Kartoffeln, Bohnen und Speck gewöhnt. Frisches Gemüse war eine Rarität und galt als ungenießbar. Ich könnte auch ein Buch über mein Arbeitsleben schreiben, aber diese Geschichte dient einem anderen Zweck.
Ich hatte eine Freundin aus der Sekundarschule, die in Vlissingen auf die Krankenpflegeschule ging. Sie heißt Maria und ich sehe sie immer noch regelmäßig, denn nach unserer Ausbildung und unseren unterschiedlichen Lebenswegen, wohnt sie nun in wieder in meiner Nähe. Die Seefahrtschule war auch in Vlissingen. An der Seefahrtschule gab es nur Jungen und an der Krankenpflegeschule nur Mädchen. Vlissingen war also eine Art Heiratsvermittlung. In der Woche vor Weihnachten veranstaltete die Seefahrtschule einen Weihnachtsball, zu dem praktischerweise die gesamte Krankenpflegeschule eingeladen wurde. Einmal nahm Maria mich dorthin mit, und dort lernte ich Jan kennen. Meine erste Stelle trat ich noch vor Jan an. Als ich meine Ausbildung erfolgreich abschloss, war mein lieber Vater so stolz auf mich, dass er mir ein kleines Auto schenkte, und da ich nun mobil war, raste ich bei jeder Gelegenheit mit meiner knallroten Ente nach Vlissingen, soweit das mit dem Auto überhaupt möglich war. Ich schlief bei Maria und ging mit Jan aus, zeitweise in Begleitung der seiner Mitbewohner und deren Freundinnen und natürlich Maria. Mit ein bisschen gutem Willen konnten wir neun Leute in mein kleines Auto packen. Einmal gingen wir zu einem Konzert der Dubliners. Sie traten in der Gemüseauktionshalle mitten auf einem Feld auf. Zehn Leute und eine Flasche Gin in einer Ente auf den unbeleuchteten Landstraßen von Walcheren. Es hat seinen Grund, dass wir unseren Kindern nicht trauen, wenn sie ausgehen.
Jan war ein fleißiger Student. Er bestand die Abschlussprüfungen des "HTS-strukturierten" Lehrgangs zum Ersten Offizier in einem Zug. Bis Jan seine Ausbildung begann, war die Seefahrtschule eine Ausbildungsschule. Zuerst ging man ein Jahr zur Schule, dann fuhr man ein paar Jahre zur See und ging dann wieder zur Schule. Nach jeweils zwei Jahren stieg man in einen höheren Rang auf. Vom Praktikant/Deckhelfer über den vierten, dritten, zweiten bis hin zum ersten Offizier. Als Erster Offizier konnte man Kapitän werden. Ende der 1970er Jahre schlossen sich die Reedereien dem Wettlauf um die Erneuerung der Ausbildung an, und diese Berufsausbildung wurde auf das Niveau einer höheren Berufsausbildung angehoben. Sie nannten sie eine "HTS-strukturierte" Ausbildung. Das bedeutete: Es handelt sich um eine technische Ausbildung, aber nicht um eine echte Höhere Technische Schule. Infolgedessen brauchten die neuen Studenten mindestens ein Havodiplom (Realschulabschluss), einschließlich Mathematik und Physik, um zugelassen zu werden. Folge dessen waren viele von ihnen gute Studenten und entschieden sich nach dem Abschluss der Seefahrtschule nicht für die Seefahrt, sondern setzten im Sinne des Mammutgesetzes ihr Studium an der Universität fort. Andere entschieden sich für eine Karriere als Manager in einem Unternehmen, weil es dort mehr Geld zu verdienen gab als auf hoher See. Als Jan die Seefahrtschule besuchte, traten die Reedereien vor die Klassen und baten richtig darum, auf ihren Schiffen zu arbeiten, so groß war der Personalmangel in der Flotte. Deshalb bekam Jan nach seinem Abschluss ziemlich schnell eine Stelle und fuhr für vier Monate zur See, ich war mit meiner Arbeit und meiner Weiterbildung beschäftigt, und nach zwei Jahren heirateten wir. Jan war sehr schnell Zweiter Offizier geworden, und als wir geheiratet hatten, durfte ich mit ihm an Bord gehen. Das habe ich ein paar Mal gemacht. Obwohl ich mich zu Tode langweilte, war die See fantastisch und ich besuchte viele schöne Häfen. Auch über diese Episode könnte ich ein Buch schreiben, aber auch das muss auf ein anderes Mal warten. Und dann kamen die Kinder. 1993 wurde unser Sohn Sam geboren. Jan war auf Urlaub zu Hause. Sam kam ohne nennenswerte Komplikationen zur Welt. Die Hebamme war eine nette, rundliche, erfahrene Dame, voller Geschichten steckte, wie es früher einmal war. Schade, dass ich sie damals nicht aufgeschrieben habe. Wir bekamen ein "Entwicklungsbuch", in dem alle Daten über den kleinen Sam festgehalten wurden. Nach ein paar Tagen wurden wir vom Beratungsbüro (Consultatieburo, CB) angerufen. Jemand würde für den Fersenstich vorbeikommen. Nach einem Monat meldeten wir uns in der Klinik zur ersten Untersuchung, wie es sich gehört. Sam wurde gewogen und gemessen, damit eine Wachstumskurve erstellt werden konnte. Nach zwei Monaten mussten wir uns erneut zur ersten Impfung melden. Eine Nacht lang war er sehr krank. Das Entwicklungsbuch informierte uns darüber, was von uns als Eltern erwartet wurde und wann wir uns wieder im CB melden mussten. Wir waren alle begeistert von dieser guten Betreuung. Sam entwickelte sich sehr gut und hielt sich genau an die Wachstumsanweisungen des CB. Wir waren stolze Eltern mit einem vorbildlichen Baby.
Die erste Säuglingsberatungsstelle in den Niederlanden wurde 1901 in Den Haag auf Initiative des Allgemeinmediziners B.P.B. Plantenga gegründet. Anfangs war das CB nur für die Armen und Benachteiligten gedacht. Heutzutage wird von jeder Mutter erwartet, dass sie ihr Baby oder Kleinkind regelmäßig im CB untersuchen lässt.
Was Dr. Plantenga tat, war äußerst notwendig. Zu Plantengas Zeiten starben viele Babys - zwanzig Prozent -, weil die Mütter nicht wussten, wie sie es verhindern konnten. Damals waren die armen Menschen oft unterernährt. Manche Mütter hatten einfach nicht genug Milch, und künstliche Ernährung gab es noch nicht. Doktor Plantenga entwickelte eine Methode, um aus Kuhmilch Babymilch herzustellen. Dies war ein großer Erfolg, und Plantengas Initiative wurde in den gesamten Niederlanden kopiert. Mütter konnten die Milch kostenlos abholen, und zwar genau die Menge, die für die erforderlichen Flaschenfütterungen am Tag ausreichte. Sie mussten die schmutzigen Windeln vorzeigen, um zu beweisen, dass ihre Babys die Milch tatsächlich bekamen, vermutlich um zu verhindern, dass die anderen Kinder in der Familie sie trinken. Daher die Regelmäßigkeit: genauso viele Fläschchen am Tag, die zu festen Zeiten gegeben werden mussten. Neben der kostenlosen Milch wurden die Mütter auch in der richtigen Pflege ihrer Babys unterwiesen. Viele Menschen waren ungebildet und arm. Es gab keine sozialen Dienste, nur Wohltätigkeit. Die Slums waren wirklich Slums. Ungeheizte Häuser, verschmutzte Straßen, Kohleöfen. Kinder mussten von klein an arbeiten. Aber das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Fortschritts, der Modernisierung, die immer mehr gebildete Menschen als Arbeitskräfte erforderte. Es war nicht mehr hinnehmbar, dass Menschen in Slums lebten und an Hunger oder Infektionskrankheiten starben. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Oberschicht zu dieser Zeit ihrer Verantwortung bewusst war. Wahrscheinlich lag es auch in ihrem eigenen Interesse, aber ohne den Willen und die Anstrengungen dieser Elite hätten die Unterprivilegierten um 1900 niemals aus ihrem Elend herausgeholt werden können. Nach einiger Zeit übernahmen die Beratungsstellen für Säuglinge auch die Betreuung von Kleinkindern. Und als die meisten der gruseligsten Krankheiten ausgerottet waren, wurden die Beratungsstellen nicht aufgelöst. Anscheinend war in der Erziehung niederländischer Kinder alles Mögliche nicht Ordnung und bedurfte der Unterstützung. Im Jahr 1938 wurde auf dem dritten Kongress für Vorschulerziehung argumentiert, dass Vorschulkinder in einer Schule in professionellen Händen besser aufgehoben seien als zu Hause bei ihren Müttern, so lese ich in "Kwetsbare kinderen. De groei van professionele zorg voor de jeugd.' [Gefährdete Kinder: Das Wachstum der professionellen Betreuung von Jugendlichen (PCM Bakker)]. Das Beratungsbüro in Den Haag markiert meiner Meinung nach den Beginn der Betreuungsgesellschaft. Es war der Startschuss für Ellen Keys Jahrhundert des Kindes, in dem alle Anstrengungen unternommen wurden, um das heranwachsende Kind vor schlechter Gesundheit, schlechter Bildung und schlechter Erziehung zu schützen. Es markiert auch den Beginn der Suche nach den Gründen, warum manche Kinder anders sind. Vom ersten Tag an waren die Eltern die Hauptverdächtigen. Als unser Sam geboren wurde, war mir das nicht bewusst. Ich fühlte mich als freie Mutter, Jan fühlte sich als freier Vater. Wir hatten einfach Kinder, wie so viele andere Eltern auch. Wir dachten, es sei die normalste Sache der Welt, Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen. Wie wunderbar das klingt: eine Familie zu gründen. Jan hatte einen guten Job. Ich hatte einen Job. Wir wohnten in einer schönen Wohnung und träumten davon, eines Tages ein Haus mit Garten zu haben. Was war daran falsch? Jan und ich genossen die Zeit des Mutterschutzes. Es hat seine Vorteile, ein Seemann zu sein. Wenn Jan nicht arbeitete, hatte er wirklich frei. Wir konnten Sam zwei Monate lang gemeinsam genießen. Dann ist der frischgebackene Vater wieder zur See gefahren. Der Abschied war plötzlich viel schwieriger!
Ich hatte damals einen sehr verständnisvollen Chef, und ich bekam Sonderurlaub, weil mein Mann zur See gefahren ist. Nach sechs Monaten, einschließlich eines unbezahlten Urlaubs, an den ich mich aber nicht mehr genau erinnere, ging ich wieder zur Arbeit. Für Sam hatte ich eine nette ältere Dame gefunden, die ihn montags und donnerstags zu Hause betreute. Am Dienstag und Mittwoch kamen meine Eltern. Freitags hatte ich frei. Es war eine wunderbare, unbeschwerte Zeit. Im Sommer verbrachte ich sogar einige Wochen mit Sam an Bord bei Jan, als er auf einer Reise in europäischen Gewässern unterwegs war.
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